Grefrath (je) Heute feiern wir den Tag der deutschen Einheit. Damals gingen die Menschen auf die Straße, um für ihre Überzeugungen und Wünsche persönlich einzustehen. Menschen haben trotz der Gefahr vor Repressionen ihre Meinung kundgetan.

Es reichte nicht mehr aus, nur zu reden und in den eigenen vier Wänden Missstände anzuprangern. Seitdem hat die Welt sich weitergedreht und gewandelt. Globalisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft haben es vollbracht, uns vor Herausforderungen zu stellen, die nicht nur unseren kleinen eigenen Lebensraum beeinflussen, sondern die ganze Welt. Alles ist mit allem vernetzt und Probleme die vormals nur lokal verortet waren, haben heute eine andere Dimension erreicht. Allen Ortes ist die Rede von einer zu komplex gewordenen Gesellschaft. Die Frage lautet in diesem Zusammenhang allerdings – für wen zu komplex? Für die Wirtschaft, für die Politik oder gar für das gemeine Volk? Letztendlich doch für uns alle – für jeden einzelnen von uns. Die entscheidende Frage ist, wie wir damit umgehen. Die offenen Fragen zu CETA, TTIP, Klimawandel, Kriege, Hungerkatastrophen, Flüchtlingsströme, eine gespaltene Gesellschaft, Pflegenotstand und vielem mehr lassen sich nicht durch einfache Antworten lösen. Es sind Probleme zu bearbeiten, die sich nicht mit der herkömmlichen Aufmerksamkeitsspanne von wenigen Minuten begreifen lassen. Also, was tun?

Aus meiner Sicht geht ein Großteil der Bevölkerung den Weg des geringsten Widerstands und resigniert oder schiebt die Lösung dieser Probleme auf die höhere Instanz. Der Rückzug ins Private oder die Einstellung „Lassen wir die da oben mal machen“ hat einen gewaltigen Nachteil. Es kann sein, dass sich irgendwann jeder einzelne von uns unangenehme Fragen der Kinder oder Enkelkinder gefallen lassen muss. Was hast Du getan gegen die Zerstörung unserer Welt? Wie bist Du umgegangen mit den Flüchtlingen in deiner Gemeinde? Warum hast Du es zugelassen, dass Konzerne aus Gewinnstreben unserer Grundwasser verseucht haben? Weshalb hast Du es ertragen, dass wir in einem der reichsten Länder der Erde eine solche Spaltung zwischen Arm und Reich haben?


Klar, dass sofort der uns seit Jahren eingetrichterte Abwehrmechanismus greift: Ja, aber was soll ich denn tun – Ich kann doch nicht die ganze Welt retten! Ja, das ist richtig, aber es geht auch gar nicht darum, die ganze Welt zu retten. Es würde schon reichen, sich selbst zu retten. Sich nicht mehr einlullen zu lassen und die Dinge zu hinterfragen. Teil einer Gemeinschaft von Individuen zu werden, die sich mit den Problemen unserer Gesellschaft auseinandersetzen. Aber wie soll das nur gehen, wenn alles zu komplex geworden ist? Die Antwort auf diese Frage ist so einfach wie genial. Jeder von uns besitzt etwas. Eine Gabe, die leider in den letzten Jahrzehnten immer mehr durch den dauernde Konsum und Konkurrenzkampf abgestumpft ist: Der gesunde Menschenverstand! Wenn ich sehe, dass Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Elend zu Tausenden ertrinken – weiß ich instinktiv, dass dies ein Unrecht ist. Wenn ein Konzern Millionen Liter Gift in unsere Böden pressen will, um dadurch Gas zu gewinnen – weiß ich, dies kann nicht gut sein. Wenn ich an der Kasse ein T-Shirt für 2 Euro kaufe , weiß ich, dass die Näherin kein glückliches Leben führen kann mit dem Geld das sie anteilig bekommt. Wenn ich sehe, dass Schulen vor unseren Augen vergammeln, ist mir klar, dass ich dies nicht dulden darf.


Wir alle sollten daher wieder dahinkommen, die in uns wohnende Gabe des gesunden Menschenverstandes zu reaktivieren. Auch wenn das vielleicht unbequem sein wird. Wir müssen auf Menschen zugehen und mit Ihnen reden, bevor wir unser Urteil fällen. Nur so lernen wir wieder in uns reinzuhören. Wir dürfen das Denken und Handeln nicht mehr nur den anderen überlassen. Klar wollen auch die Ratsmitglieder unserer Gemeinde nur unserer Bestes, aber nur weil diese 34 Menschen eine Vorstellung davon haben, was unser Bestes ist, heißt das nicht, dass es dies auch wirklich ist. Wir müssen uns wieder einmischen in die Dinge, die uns selbst betreffen. Wir müssen unsere kleinen Räume, ob real oder virtuell, verlassen und wieder auf die Straße gehen. Denn letztendlich sind wir das Volk und viele falsche Dinge geschehen in unser aller Namen.

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