Warum wir vergessen – und warum das so gefährlich ist
Wenn ein Kind ermordet wird, bewegt uns das tief. Wir sehen die Gesichter, hören die Stimmen der Eltern, fühlen den Verlust.
Vor unseren Augen entstehen Kerzenmeere an der Tötungsstelle, Blumen, Spielzeug, Teddybären – stille Beweise einer kollektiven Trauer und Anteilnahme.
Ein einzelnes Schicksal trifft uns mitten ins Herz – weil wir es begreifen können.
Doch wenn wir an die 1,5 Millionen Kinder denken, die im Dritten Reich ermordet wurden, darunter die sogenannten „Reichsausschuss-Kinder“, bleibt es oft still in uns. Keine Namen, keine Fotos, keine Geschichten – nur Zahlen.
Unser Verstand weiß, dass es unbegreiflich ist. Aber unser Herz kann mit Zahlen nichts anfangen. Es schlägt für das Konkrete, das Sichtbare, das einzelne Leben. Und genau das erklärt, warum wir bei gegenwärtigem Leid emotional stärker reagieren als bei historischem Grauen.
Erinnerung braucht Gesichter
Am 9. November erinnern viele Menschen an die Pogrome von 1938. Auch Freunde von mir posten jedes Jahr dieselben Fotos: Aufnahmen aus ihrem Ort, gemacht von Werner Lüders – stille Zeugnisse von Gewalt, Vertreibung und Zerstörung.
Sie schreiben:
„Erinnerung ist heute wichtiger denn je. 2025 gibt es wieder Angriffe auf Synagogen, jüdische Einrichtungen und auf Menschen, die als jüdisch erkannt werden. Erinnerung heißt, Verantwortung zu übernehmen. Kein Vergeben. Kein Vergessen.“
Diese Worte treffen ins Mark. Sie zeigen, dass Erinnerung keine Rückschau ist, sondern eine Haltung.
Denn Antisemitismus lebt – in Parolen, in Kommentaren, in Schweigen.
Und das Vergessen ist sein bester Verbündeter.
Die seelische Schutzmauer
Warum stumpfen wir ab?
Psychologen nennen es einen Schutzmechanismus. Unser Geist kann das Ausmaß millionenfachen Leidens nicht aushalten. Also blendet er es aus. Das ist menschlich, aber gefährlich.
Denn so wächst mit jeder Generation die Distanz – und mit der Distanz schwindet die Empörung.
Wenn Opfer nur noch Zahlen sind, verlieren wir die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden.
Und genau dort, wo das Mitgefühl versiegt, beginnt die Wiederholung.
Kein Vergessen heißt: Verantwortung übernehmen
Die Bilder der Vergangenheit erinnern uns daran, dass Menschen zu allem fähig sind – auch zu medizinisch geplantem Massenmord. Die Ermordung der „Reichsausschuss-Kinder“ durch Ärzte und Pfleger zeigt, wie weit sich eine Gesellschaft verirren kann, wenn sie Mitmenschlichkeit durch Gehorsam ersetzt.
Erinnerung heißt, diese Verirrung immer wieder sichtbar zu machen – nicht, um Schuld zu verteilen, sondern um Verantwortung wachzuhalten.
Denn wer erinnert, bezeugt Menschlichkeit.
Und wer vergisst, macht Platz für ihre Gegner.
Nie wieder ist jetzt
Wenn wir heute an ein ermordetes Kind denken, sollten wir auch an die Millionen denken, die keine Stimme mehr haben.
Erinnerung ist kein Rückblick – sie ist ein Spiegel unserer Gegenwart.
Nur wenn wir das Unbegreifliche wieder greifbar machen, bleibt „Nie wieder“ mehr als ein Satz.
Ich möchte mich noch bei allen Menschen bedanken, die an die Novemberpogrome von 1938 erinnern, an den Beginn systematischer Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, Behinderte Kinder und Erwachsene und alle Ermordete in Deutschland und Europa. Mein besonder Danke für das aufrüttelnde Foto und die, immer noch notwendige Erinnerung von meinen Freunden, – Bündnis 90/die Grünen Schwalmtal.

