Mein persönlicher Blick auf Demokratie, Verantwortung und die daraus erfolgten Kompromisse
abs/oedt. Haben wir Grünen in unserer Zeit in der Opposition mehr erreicht als während unserer Regierungsbeteiligungen? Diese Frage mag provokant wirken – doch sie verweist auf ein zentrales Spannungsfeld jeder Demokratie: Opposition steht für Klarheit und Haltung, Regierung bedeutet Verantwortung und Kompromisse.
Gerade in Zeiten einer fragilen Demokratie, in der populistische Kräfte wie die AfD an Einfluss gewinnen, lohnt sich ein genauer Blick. Denn Demokratie lebt nicht nur von stabilen Regierungen, sondern auch von einer starken Opposition. Doch wer in die Regierung eintritt, riskiert, sein Profil zu verwässern – und das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler zu verlieren.
Wir Grünen als starke Opposition – klare Werte, klare Kante
In den 1980er- und 1990er-Jahren standen wir Grünen für eine unverwechselbare, oft kompromisslose Politik. Ob Anti-Atom-Bewegung, Friedensbewegung oder die konsequente Forderung nach einer ökologischen Wende –vieles davon wurde nicht in der Regierung durchgesetzt, sondern durch hartnäckige Oppositionsarbeit in den Bundestag und in die Gesellschaft getragen.
Die Rolle der Opposition gab uns die Möglichkeit, klare Werte zu vertreten: ökologische Verantwortung, Menschenrechte, Gleichstellung. Ohne Koalitionspartner im Nacken konnten wir unsere Linie ohne Abstriche vertreten – und genau das machte uns zum agenda-setzenden Motor für Veränderungen in Deutschland.
Regierung bedeutet Verantwortung – und schmerzhafte Kompromisse
Die erste große Regierungsbeteiligung 1998–2005 unter Rot-Grün war für viele Mitglieder und Wählerinnen ein Schock. Wir Grünen mussten plötzlich Entscheidungen mittragen, die unserer Basis schwer zu vermitteln waren:
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Militäreinsatz im Kosovo – eine rote Linie für viele Pazifist*innen.
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Atomausstieg auf Raten – weit weniger konsequent, als zuvor gefordert.
Ähnlich sah es in der Ampel-Koalition aus: Klimaziele wurden nachjustiert, Waffenlieferungen an die Ukraine mussten mitgetragen werden, und in der Asylpolitik wurden harte Kompromisse eingegangen.
Die Realität lautet: In der Regierung tragen wir Grünen Verantwortung für das Ganze – und werden gleichzeitig für jede Abweichung von unseren Versprechen hart kritisiert. Für viele wirkt das wie ein Bruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Wir Grünen verlieren die Sprache der Bevölkerung
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft unsere Kommunikation. Viele Menschen haben das Gefühl, dass wir zunehmend eine Sprache sprechen, die eher akademisch und technokratisch klingt – aber nicht mehr die Lebenswirklichkeit der Bevölkerung trifft. Begriffe wie Transformation, Dekarbonisierung oder Resilienz mögen in Fachkreisen selbstverständlich sein, doch sie schaffen Distanz zum Alltag vieler Bürgerinnen und Bürger.
Dadurch entsteht der Eindruck einer abgehobenen Politik, die Probleme zwar analysiert, aber nicht mehr in verständliche Bilder und klare Worte übersetzen kann. Für uns, die wir aus der Bürgerbewegung hervorgingen, ist das ein gefährliches Signal.
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Ehrliche Bilanz statt Schönfärberei
In vielen Kommunen haben wir Grünen an Zuspruch verloren – während rechtsextreme Kräfte deutlich zulegen konnten. Doch anstatt das klar zu benennen, hören wir oft nur Sätze wie: „Wir haben den Wählerauftrag.“ oder
„Herzlichen Glückwunsch, wir sind wieder im Gemeinderat, Stadtrat oder Kreistag vertreten.“
Was jedoch selten ausgesprochen wird, ist die unbequeme Wahrheit: Wir haben Stimmen verloren. Wir müssen die Menschen zurückholen – und neue gewinnen. Denn unsere politische Uhr steht längst auf „eine Minute vor zwölf“. Wir haben keine Zeit mehr zum Abwarten. Ohne eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger rinnt uns die Zeit noch schneller durch die Finger.
Macht und finanzielle Zuwendungen als Risiko
Hinzu kommt, dass Macht auch Nebenwirkungen hat. Regierungsbeteiligung bedeutet Einfluss, Posten, finanzielle Ressourcen und institutionelle Absicherung. Das ist an sich nicht illegitim – jede Partei benötigt Strukturen. Doch es birgt die Gefahr, dass bürgernahe Politik in den Hintergrund tritt, wenn die Logik von Ämtern, Budgets und Netzwerken wichtiger wird als der direkte Dialog mit den Menschen.
Gerade in einer fragilen Demokratie muss jedoch gelten: Politik darf nicht den Anschein erwecken, sich selbst zu bedienen. Sonst wächst das Misstrauen – und Populisten haben leichtes Spiel.
Fragile Demokratie braucht Opposition und Regierung gleichermaßen
Hier zeigt sich eine wichtige Erkenntnis: Demokratie funktioniert nur im Zusammenspiel von Opposition und Regierung.
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Die Regierung muss Mehrheiten organisieren und realistische Politik gestalten.
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Die Opposition hat die Aufgabe, unverrückbare Werte zu verteidigen und Missstände klar zu benennen.
Fehlt eine starke Opposition, droht eine Demokratie zu erodieren. Parteien, die sich im Kompromiss verlieren, wirken farblos – und öffnen den Raum für Populisten. Hier liegt die Gefahr der Politikverdrossenheit: Wenn Bürgerinnen und Bürger den Eindruck gewinnen, „alle seien gleich“, stärkt das radikale Kräfte.
Wir Grünen sind damit ein Lehrbeispiel für das Spannungsfeld von Ideal und Realpolitik. In der Opposition waren wir glaubwürdiger, in der Regierung oft zerrissen.
Lehren für uns Grünen – und für die Gesellschaft
Für uns Grünen bedeutet das: Wir müssen auch in der Regierung klar erkennbare Linien behalten. Nur so können wir Vertrauen erhalten und zeigen, dass Demokratie nicht gleichbedeutend ist mit Beliebigkeit.
Für die Gesellschaft heißt das: Opposition darf nicht als „Verliererrolle“ abgetan werden. Sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Demokratie – und oft die Stimme, die uns daran erinnert, was auf dem Spiel steht.
Fazit: Mehr erreicht in der Opposition?
Vielleicht haben wir Grünen in unserer Zeit in der Opposition tatsächlich mehr gesellschaftliche Wirkung entfaltet, als es uns in der Regierung möglich war. Nicht, weil wir dort weniger wollten, sondern weil Regierungsverantwortung zwangsläufig Kompromisse verlangt.
Für eine fragile Demokratie ist das ein Warnsignal: Wenn klare Werte im Alltag der Macht zu sehr verwässert werden, droht Vertrauen zu zerbrechen. Die Lehre lautet: Eine starke Opposition ist genauso wichtig wie eine handlungsfähige Regierung.
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/153857/umfrage/zufriedenheit-mit-der-demokratie-in-der-eu/. !!!!!!!!