Die Sprache der Christlichen stärkt die Rechten…
… und nicht unsere Demokratie.
Es war ein Tag, der zeigt, wie lebendig die demokratische Zivilgesellschaft in Deutschland noch immer sein kann: Zehntausende Menschen versammelten sich in Gießen. Friedlich. Solidarisch. Engagiert. Grün, Rot, Links, Volt – ein breiter Strom, sichtbar, präsent, mitten im Herzen der Stadt. Ein Bild, das Mut macht. Ein Bild, das zeigt, dass die Mehrheit der Menschen sich klar positioniert: gegen Rechtsradikalismus, gegen Spaltung, gegen Hassrhetorik.
Und doch fehlte etwas. Oder vielmehr: jemand.
Die CDU.
Nicht ein Banner, nicht eine Fahne, kein Stand, keine Vertreterinnen oder Vertreter, die man zuordnen konnte. Und das ausgerechnet wenige Meter neben dem Büro von Volker Bouffier, der nur einmal hätte hinauskommen müssen, um Gesicht zu zeigen. Er tat es nicht. Diese Abwesenheit ist kein Zufall – sondern ein Symptom für eine Verschiebung, die tief in die politische Sprache und Orientierung der Christdemokraten hineinreicht.
Die Demokraten sind auf der Straße – die CDU ist es nicht
Während die Mehrheit der demokratischen Kräfte in Gießen sichtbar Haltung zeigt, bleibt die CDU unsichtbar. Die Partei, die stets betont, die „Mitte“ zu vertreten, taucht dort ab, wo demokratischer Konsens öffentlich gelebt wird. Und während sich Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft solidarisch zeigen, geht eine Linken-Abgeordnete – Desiree Becker – ohne Personenschutz durch die Menge. Kein Sicherheitsapparat, keine Distanz. Sie läuft wie jeder andere auch, weil sie nichts schürt, was ihr gefährlich werden müsste. Keine Feindbilder, keine Spaltung, keine sprachlichen Brandherde.
Es ist ein bemerkenswerter Kontrast: Diejenigen, die sich am entschiedensten gegen Rechts stellen, sind sichtbar und erreichbar. Die CDU dagegen verschwindet – ausgerechnet in einem Moment, in dem demokratische Präsenz und Klarheit dringend gebraucht werden.
Die CDU schweigt auf der Straße – aber wird lauter im rechten Sprachraum
Und genau hier beginnt der eigentliche Skandal. Während die CDU im öffentlichen Raum abtaucht, übernimmt ihre Führungsspitze immer häufiger sprachliche Muster der extremen Rechten. Was Friedrich Merz inzwischen an Begriffen, Frames und Unterstellungen bedient, ist in Teilen wortgleich in AfD-Kanälen zu finden. Wenn ein CDU-Parteivorsitzender gesellschaftliche Gruppen – von Gewerkschaften bis hin zu Bildungseinrichtungen – pauschal als „linksextrem“ bezeichnet, dann ist das keine konservative Position mehr. Es ist eine rhetorische Übernahme der Kategorien, mit denen die AfD seit Jahren versucht, demokratische Institutionen zu delegitimieren.
Die Frage drängt sich auf: Wie weit rechts muss ein Mann wie Friedrich Merz inzwischen stehen, um Akteure wie den DGB, schulische Initiativen, Universitäten, „Omas gegen Rechts“ und zivilgesellschaftliche Bündnisse als „extrem“ einzustufen? Eine solche Perspektive findet man sonst nur am äußersten rechten Rand.
Innenminister Poseck verurteilt Gewalt – aber nur selektiv
Auch Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) zeigt diese Entwicklung. In Gießen verurteilte er zwar die Gewalt – allerdings auffällig einseitig. Die Übergriffe von Polizeikräften auf Demonstrierende blieben unerwähnt. Kritik an staatlichem Handeln, differenzierte Betrachtung, demokratische Selbstreflexion? Fehlanzeige. Es entsteht der Eindruck einer Partei, die sich zunehmend scheut, auch eigene Apparate kritisch zu betrachten, während sie zugleich ganze gesellschaftliche Gruppen pauschal abwertet.
Ein gefährlicher Drift: Unsichtbar auf der Straße, sichtbar im rechten Sprachraum
Demokratische Parteien müssen sichtbar sein, dort, wo es zählt: auf der Straße, im Dialog, in der Auseinandersetzung, im Austausch mit Menschen. Wer aber in diesen Räumen verschwindet und stattdessen die rhetorischen Strategien der extremen Rechten übernimmt, verschiebt Grenzen. Nicht laut, nicht auffällig – aber schleichend. Und genau das ist gefährlich.
Denn während die AfD schreit, weicht die CDU in die Rhetorik der AfD hinein. Eine solche Normalisierung rechter Narrative ist historisch gesehen stets der erste Schritt, bevor sich politische Realitäten verändern. Die Demokratinnen und Demokraten auf der Straße in Gießen haben dies längst erkannt.
Die große Erzählung: Die Wahl zwischen Demokratie und ihrer Aushöhlung
Wenn heute viele Menschen sagen, sie seien gegen eine neonazistische Partei wie die AfD, aber gleichzeitig auch gegen die politische Richtung von Friedrich Merz, dann ist das kein Widerspruch. Es ist ein Ausdruck demokratischer Verantwortung. Denn wer demokratische Institutionen schützen will, darf nicht nur dort widersprechen, wo der offene Faschismus steht – man muss auch dort widersprechen, wo Sprache und politische Frames beginnen, sich gefährlich zu verschieben.
Merz verkauft, so scheint es, bereitwillig die demokratische Integrität seiner Partei, um sich als möglicher Kanzler der Rechten profilieren zu können. Für den Machterhalt wirft er demokratisch denkende Menschen rhetorisch den extremen Kräften zum Fraß vor. Das ist nicht nur politisch leichtfertig. Es ist moralisch verantwortungslos.
Was sind uns Mahnmale und Geschichte noch wert?
Deutschland hat weltweit beachtete Denk- und Mahnmale, Stolpersteine, Reden, Gedenktage. Ganze Generationen haben gelernt, was die nationalsozialistische Tyrannei angerichtet hat. Doch was sind all diese Zeichen wert, wenn wir ihnen politisch nicht folgen? Wenn wir ausgerechnet jetzt zulassen, dass demokratische Parteien sich sprachlich an Kräfte annähern, die den Kern des Grundgesetzes infrage stellen? Wenn wir vergessen, dass Hitler 1932 demokratisch gewählt wurde – und der demokratische Erkenntnisverlust danach das größte Verhängnis der modernen Geschichte wurde?
„Nie wieder“ ist kein Satz für Gedenkveranstaltungen. Es ist eine tägliche Verpflichtung. Und sie beginnt dort, wo Sprache politisch missbraucht wird.
Ein Moment, der Gießen leuchten ließ
„Gießen hat nicht gebrannt, sondern geleuchtet – durch die vielen Augen derer, die auf die Straßen gegangen sind und fröhlich und friedlich ihre Unterstützung unserer Demokratie gefeiert und ihrer Sorge vor einem Rechtsruck Ausdruck verliehen haben. Das ist das, was uns von diesem Tag in Erinnerung bleiben sollte. Zigtausende Menschen haben sich nicht abschrecken lassen von den Prognosen und Warnungen, die hier bürgerkriegsähnliche Zustände in der ganzen Stadt heraufbeschworen haben. Sie waren da und haben ihren Sorgen um unsere Gesellschaft Ausdruck verleihen können. Und sie haben eine große Gemeinschaft in dieser Stadt vorgefunden. Eine Gemeinschaft, die sie trägt, die uns trägt und die Botschaft in die Republik ruft: Wir sind mehr. Wir sind die Mehrheit. Dieser Mut kann von Gießen ausgehen. Und er muss uns alle weitertragen: Nicht mutlos zu sein. Nicht resigniert zu sein. Nicht alleine zu bleiben mit Ängsten und Sorgen.
Frank-Tilo Becher (* 7. Februar 1963 in Frankfurt am Main) ist ein deutscher Politiker (SPD) und ehemaliger evangelischer Pfarrer. Seit 2021 ist er Oberbürgermeister der Stadt Gießen“
Der gefährlichste Drift ist der leise
Keine CDU-Fahne in Gießen. Keine CDU-Gesichter in der Menge. Keine CDU-Präsenz, wo demokratisches Engagement sichtbar gelebt wird. Aber eine CDU-Sprache, die immer häufiger an die extreme Rechte erinnert.
Dieser Drift passiert leise. Und genau deshalb ist er so gefährlich. Die Demokratie wird selten in einem großen Knall zerstört – sondern in kleinen, unscheinbaren Schritten. Die Menschen in Gießen haben gezeigt, dass sie es verstanden haben. Die Frage bleibt, ob die CDU es noch versteht.
