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Häusliche Gewalt im Kreis Viersen: Warum Weggehen so schwer ist – und warum niemand wegschauen darf

Häusliche Gewalt ist keine Randerscheinung, sondern bittere Realität – jeden Tag, überall, auch mitten im Kreis Viersen. Und sie beginnt selten mit sichtbaren Verletzungen. Viel häufiger startet der Kreislauf mit Kontrolle, Isolation, Demütigungen und subtiler Abhängigkeit. „So fängt es an“, sagt Helga Nauen, Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Tönisvorst. Und wie so oft verschärft sich die Lage, wenn eine Schwangerschaft hinzukommt und Abhängigkeiten tiefer werden. Gewalt wächst im Verborgenen – oft über Jahre.

Allein 2024 registrierte die Polizei im Kreis Viersen 901 Straftaten im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt. Ein Jahr zuvor waren es 880. Bundesweit erlebt alle vier Minuten eine Frau Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner. Die Dimensionen sind erschütternd – und doch bleibt häusliche Gewalt eines der am stärksten tabuisierten Themen in Deutschland.

Ein Weg voller Angst, Abhängigkeit und Unsicherheit

Wer häusliche Gewalt erlebt, kann nicht einfach gehen. Dieser Satz ist unbequem – aber er ist wahr. „Wenn ich gehe, gehe ich mit leeren Händen“, erklärt Nauen. Dazu komme die Angst, alles zu verlieren: das eigene Zuhause,

Eine geballte Faust in der Nähe einer sitzenden Person, die den Kopf gesenkt hat, mit dem Wort 'STOP' daneben.
Alexas_Fotos / Pixabay

den Freundeskreis, die Sicherheit im Alltag – und im schlimmsten Fall das eigene Kind. Ein Leben, das über Jahre aufgebaut wurde, brach innerhalb eines Moments weg.

Für viele Betroffene bedeutet der Gedanke an eine Trennung nicht Freiheit, sondern Existenzangst. „Dafür braucht es viel Wissen und Planung“, betont Nauen. Und Mut – mehr Mut, als Außenstehende sich oft vorstellen können.

Noch komplizierter wird es, wenn psychologische Abhängigkeiten bestehen. Die Gleichstellungsbeauftragte Diana Schrader aus Willich beschreibt diese Bindung wie eine Sucht: „Das hat etwas mit chemischen Vorgängen im Gehirn zu tun. Da geht man nicht einfach weg.“ Und deshalb kehren viele Betroffene zurück, wenn der Täter Reue vortäuscht oder einen „Ausrutscher“ kleinredet.

Warum Scham schweigen lässt – und warum Sprache Gewalt verschleiert

Das Bundesinnenministerium weist darauf hin, wie fatal die gesellschaftliche Verharmlosung ist. Wenn Frauen bedroht, geschlagen oder ermordet werden, ist das keine „Beziehungstragödie“ und kein „Eifersuchtsdrama“. Es ist Gewalt. Brutale, unverzeihliche Gewalt.

Viele Betroffene schweigen aus Scham, aus Angst oder weil ihnen eingeredet wurde, sie trügen eine Mitschuld. „Diese falsche Scham hält Frauen davon ab, Anzeige zu erstatten“, heißt es aus der Politik. Und sie hält Außenstehende davon ab, genauer hinzusehen.

Doch laut Nauen braucht es genau das: mehr Menschen, die aufmerksam sind, Signale deuten, sich einmischen. „Es sollte gesamtgesellschaftlich null Toleranz gegenüber Gewalt geben.“ Doch gerade auf Demonstrationen seien es fast immer Frauen, die dagegen protestieren. „Mehr Männer müssten Haltung zeigen.“

Was sich ändern muss – und warum Täterarbeit entscheidend ist

Ein zentraler Punkt ist die Arbeit mit Tätern. Wer Gewalt ausübt, muss Verantwortung übernehmen – und zwar nicht erst, wenn eine Beziehung zerstört ist. Nauen fordert mehr Angebote, die Aggressoren frühzeitig helfen, ihre Muster zu erkennen und zu durchbrechen. Nur so lässt sich die Gewaltspirale stoppen.

Gleichzeitig müssen Rechtfertigungen verschwinden, die Gewalt relativieren – etwa die perfide Behauptung, Betroffene hätten Übergriffe provoziert. Diese Schuldumkehr ist nicht nur falsch, sondern zerstörerisch.

Was Menschen tun können, wenn sie Gewalt vermuten

Nahaufnahme eines Gesichts mit auffälligem Make-up und feuchten Effekten auf der Haut.
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Viele Betroffene können nicht aus eigener Kraft sprechen. Deshalb ist der Blick von außen entscheidend. Diana Schrader rät: Bei einem Verdacht vorsichtig ansprechen, Hilfe anbieten, da sein. Zuhören. Unterstützen. „Das Allerschlimmste ist, gar nichts zu machen. Niemand sollte wegschauen. Es ist keine Privatsache.“

Im Kreis Viersen gibt es dafür den „Runden Tisch gegen häusliche Gewalt“, in dem Polizei, Justiz, Beratungsstellen, kirchliche Träger, Gesundheitswesen und Gleichstellungsstellen gemeinsam arbeiten. Ziel ist es, zu informieren, zu vernetzen und schneller reagieren zu können. Denn: „Information ist immens wichtig“, sagt Nauen. „Jemand, der informiert ist, kann schneller handeln.“

Allerdings warnt die Frauenhauskoordinierung e.V. eindringlich, dass die vom Bund im Rahmen des Gewalthilfegesetzes vorgesehenen Mittel nicht ausreichen: Zwar beteiligt sich der Bund mit 2,6 Milliarden Euro am Ausbau des Hilfesystems bis 2036. Frauenhauskoordinierung+2Diakonie+2 Dennoch deuten Berechnungen darauf hin, dass jährliche laufende Kosten von über 1,6 Milliarden Euro nötig wären, um ein voll ausgebautes und bedarfsgerechtes Hilfesystem dauerhaft zu finanzieren. Frauenhauskoordinierung Gleichzeitig drohen Rückzüge von Ländern und Kommunen aus ihrer Finanzverantwortung – ein Szenario, das viele Frauenhäuser alarmiert. Frauenhauskoordinierung

Direkte Anlaufstellen im Kreis Viersen

Frauenberatungsstelle im Frauenzentrum Viersen
Telefon: 02162 18716 / 106809
E-Mail: info@frauenberatung-viersen.de

  1. Sondervermögen für Frauenhäuser
    Laut Bundestag werden 30 Mio. Euro für 2026 aus dem Sondervermögen „Infrastruktur und Klimaneutralität“ für den Ausbau bzw. die Sanierung von Frauenhäusern eingeplant. Deutscher Bundestag

  2. Gewalthilfegesetz

    • Im Januar 2025 wurde ein neues Gewalthilfegesetz (Gewaltschutzgesetz) beschlossen, das den Zugang zu Schutz und Beratung stärkt. Deutscher Bundestag+2Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion+2

    • Dieses Gesetz sieht vor, dass der Bund sich langfristig finanziell beteiligt – unter anderem für Aufenthalte in Frauenhäusern und psychosoziale Betreuung. Deutscher Bundestag

    • Gleichzeitig ist vorgesehen, dass aus dem Bundeshaushalt in den Jahren 2027–2036 zusätzliche Steuerausfälle durch das Gesetz entstehen. Deutscher Bundestag

  3. Investitionsprogramm
    Die Frauenhauskoordinierung e.V. meldet, dass die Bundesregierung 150 Mio. Euro für ein Frauenhaus-Bau- und Sanierungsprogramm bereitgestellt hat. Frauenhauskoordinierung

  4. Kritik von Fachverbänden

    • Die GFMK (Gemeinsame Frauenminister­konferenz) fordert weiterhin mehr Mittel, weil ein befristetes Bundesfinanzierungsprogramm („Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“) Ende 2024 ausgelaufen ist. Ministerium für Gesundheit und Soziales

    • Laut Wissenschaftlichen Diensten des Bundestages ist die Finanzierung des Hilfesystems für Gewaltbetroffene durch den Bund teils eingeschränkt, besonders bei Opfern aus Drittstaaten. Deutscher Bundestag


 Fazit

Tatsächlich existieren derzeit keine konkreten Pläne seitens der Bundesregierung, die systematische Kürzung von Geldern für Frauenhäuser oder den Gewaltschutz im Bundeshaushalt umzusetzen. Im Gegenteil: Für

2026 sind 30 Millionen Euro aus dem Sondervermögen „Infrastruktur & Klimaneutralität“ für den Ausbau und die Sanierung von Frauenhäusern eingeplant. Deutscher Bundestag Gleichzeitig bringt das 2025 verabschiedete Gewalthilfegesetz langfristige Mittel des Bundes für Schutz, Beratung und Betreuung Gewaltbetroffener ein. Deutscher Bundestag+1 Zugleich endet ein früheres Bundesinvestitionsprogramm („Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen“) mit Ablauf 2024, weshalb Fachverbände wie die Frauenhauskoordinierung e.V. weiter ein dauerhaft sicheres Finanzierungsmodell fordern.

[1] Bundesinnenministerium – Zahlen zu Partnerschaftsgewalt
[2] Polizei Kreis Viersen – Statistik 2023 und 2024
[3] Frauen-Info-Netz NRW – Übersicht Frauenhäuser
[4] Männergewaltschutz NRW – Schutzwohnungen für Männer

Der 25. November ist der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen

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